DigitalisierungEinkaufelektronische BeschaffungInterviewsNewsPlattformenProzessautomatisierungBernd Kohring, Einkaufsleiter der SEW Eurodrive, im Interview mit apadua
Bernd Kohring über den Einkauf als zentralen Knotenpunkt

Wenn jemand für den Einkauf – insbesondere in seiner crossfunktionalen Funktion – brennt, dann er: Schon seit seinem Start bei SEW-EURODRIVE im Jahr 1996 macht Bernd Kohring sich für eine gesamtheitliche Betrachtung der Einkaufsorganisation stark. Und seine Mühen zahlen sich aus.

Seit mehr als 12 Jahren leitet er den Einkauf aller deutschen Produktionsstandorte des Spezialisten für Antriebstechnik und koordiniert auch übergreifende, globale Einkaufthemen an den internationalen SEW-EURODRIVE-Produktionsstandorten. Für sein unternehmensweit ausgerolltes Programm „Global Procurement 360° – see the big picture“ wurde Bernd Kohring außerdem vom BME mit dem Preis „Excellence in eSolutions 2020“ ausgezeichnet.

Hinter dem Programm verbirgt sich eine vor Jahren gestartete Initiative, die auf der langfristigen Strategie des studierten Wirtschaftsingenieurs basiert: Die weltweiten Einkaufsorganisationen noch stärker zu vernetzen und deren Rolle im Wertschöpfungsprozess transparent zu machen. Denn Bernd Kohring versteht den Einkauf seit jeher als Treiber des unternehmensweiten Wandels – getreu dem Motto „Raus aus dem Silo – hin zu einer abteilungs- und unternehmensübergreifenden Kooperation“.

Daher richtet er seinen Fokus auf Bottom-up entwickelte Lösungsansätze für eine noch effizientere, zukunftsweisende Zusammenarbeit mit anderen Unternehmensfunktionen und externen Partnern. Digital gestützt, global wirksam. Hiermit verfolgt Bernd Kohring konsequent seine Vision, den Einkauf stärker administrativ zu entlasten und somit Freiräume für die zentralen, strategischen Themen zu schaffen.

Inwiefern sich die Rolle des Einkaufs verändert hat und verändern muss, welchen Beitrag der Einkauf im Hinblick auf die Digitalstrategie eines Unternehmens leistet und wie es gelingt, lokal erfolgreich erprobte Tools global auszurollen, schildert der prozessaffine Einkaufsexperte im Interview.

apadua: Ahoi, Herr Kohring und herzlich Willkommen bei „Butter bei die Fische“. Bevor wir ablegen, noch eine organisatorische Frage: Welches Tool hilft Ihnen, auf Kurs zu bleiben?

Bernd Kohring: Für mich ist die große Frage: Gibt es wirklich das eine Tool? Den einen Kompass? Den einen Radar, mit dem man alles abfangen kann? Das gab‘s vielleicht noch vor einigen Jahren, aber jetzt sicherlich nicht mehr.

Das heißt: Heutzutage bauen wir uns ein Toolkit aus vielen einzelnen Bestandteilen – und verbinden die verschiedenen Elemente auf intelligente Weise miteinander. Das beste Beispiel hierfür trägt inzwischen wohl fast jeder in seiner Hosentasche: das Smartphone. Hier gibt’s eigentlich für alles eine extra App. Wir nutzen die unterschiedlichen Lösungen ganz selbstverständlich – ohne uns jemals Gedanken darüber zu machen.

„Wir alle nutzen unterschiedliche Apps auf unserem Smartphone. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Ansatz, also für jeden Anwendungsbereich die beste auf dem Markt verfügbare Lösung zu nutzen, auch im Geschäftsleben funktioniert.“

Im Geschäftskontext ist es ebenfalls ein kontinuierlicher Prozess, d.h. unser Werkzeugkasten wächst Schritt für Schritt – mit den Aufgaben, Zielen und Herausforderungen. Aktuell sind wir bei SEW Eurodrive beispielsweise dabei, ein Toolkit für unsere Einkaufsorganisation aufzusetzen.

Viele unserer Prozesse und Lösungen – angefangen vom Warenwirtschaftssystem bis hin zum Berichtswesen – funktionieren vor dem Hintergrund volatiler Märkte und der allgemein angespannten Lage nicht mehr. Es bringt aber auch nichts, den Einkauf losgelöst von anderen Abteilungen – inklusive aller vor- und nachgelagerten Prozesse – transformieren zu wollen.

Aus diesem Grund haben wir einkaufsseitig vor vielen Jahren eine eigene Abteilung für Datenanalyse & Prozessoptimierung aufgebaut, die inzwischen auf ein Team von acht Personen angewachsen ist. Quasi unser ‚Human Toolkit‘. Die Kernaufgabe des Teams besteht darin, die unterschiedlichen Geschäftsprozesse zu durchleuchten und die anfallenden Daten entlang der Wertschöpfungskette miteinander zu verknüpfen.

Dieser ganzheitliche Ansatz ermöglicht uns einen besseren Überblick, schafft Transparenz und lässt uns die Stolpersteine der Zukunft frühzeitig aufdecken. So kommen wir mehr und mehr raus aus dem Reaktionsmodus und hin zum vorausschauenden Agieren. Davon profitiert das ganze Unternehmen.

apadua: Mit welchen Themen und Herausforderungen sind Sie derzeit konfrontiert – und welche Hürden gilt es dabei zu überwinden?

Bernd Kohring: Vor uns liegt ein Blumenstrauß aus vielfältigen Themen und Herausforderungen. Da ist zum einen die Umstellung auf S4/Hana – unser aktuell größtes Vorhaben, das im Grunde genommen alle Unternehmensprozesse betrifft und weit mehr als ein reines IT-Projekt ist. Daneben beschäftigen uns aber auch Aspekte der Globalisierung, die Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen, wie z.B. die Lieferkettensorgfaltspflicht, aber auch Nachhaltigkeit, Change-Management, Spend Management sowie Digitalisierung im Allgemeinen.

Zudem besteht als produzierendes Unternehmen eine der größten Herausforderungen natürlich darin, die notwendigen Teile zu beschaffen. In Zeiten von Lieferengpässen und Ressourcenknappheit kommen wir dann auch schnell zum Thema Rückstandsabbau inklusiver aller damit verbundener Herausforderungen bei der Fertigungsplanung und -steuerung. Und das alles vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Beschaffungsstrategie.

„Möchte man der Komplexität der Einkaufsfunktion gerecht werden und das volle Potential ausschöpfen, kommt man nicht umhin, den Einkauf als zentralen Knotenpunkt und mehrwertstiftende Säule im Unternehmen zu positionieren.“

In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns aktuell auch mit der Frage, wie wir uns einkaufsseitig noch professioneller im Unternehmen aufstellen können – und zwar global betrachtet. Der Einkauf ist aus meiner Sicht eine genauso große Säule im Unternehmen wie der Vertrieb oder die Produktion. Allerdings wird der Mehrwert des Einkaufs oftmals nicht gesehen. Für viele ist der Einkauf immer noch ein Bestellabwickler.

Die Krise hat jedoch auch dazu geführt, dass wir noch einmal neu über die Funktion und Rolle des Einkaufs nachdenken und den Mehrwert des Einkaufs transparent(er) machen. Hierfür nutze ich gerne das Bild eines U-Bahn-Netzes. Wenn wir uns den klassischen Purchase-to-Pay-Prozess anschauen, dann ist der Einkauf auf vielen Ebenen mit den anderen Unternehmensfunktionen verbunden. Es gibt also viele Haltestellen und Knotenpunkte, an denen der Einkauf ins Spiel kommt.

Das muss man allerdings erst einmal sichtbar machen, damit klar wird, welche Auswirkungen die einzelnen Prozessschritte aufeinander haben. Zum Beispiel die Themen Lieferanten-, Vertrags- und Risikomanagement, Produktkonformität oder auch Stammdatenkonsolidierung und Stammdatensteuerung.

Relevante Fragen in diesem Zusammenhang sind unter anderem: Wo werden die Daten zentral gespeichert? Wie stellen wir sicher, dass die Daten immer aktuell sind? Und natürlich auch die Frage, wie wir die einzelnen Systeme und Abteilungen harmonisieren können? Hier wird deutlich, wie komplex die Einkaufsfunktion heutzutage ist – allen voran im Indirekten Bereich.

apadua: Wodurch zeichnet sich für Sie ein effizienter P2P-Prozess aus. Und was gilt es bei der Einführung neuer Tools zu beachten?

Bernd Kohring: Je größer ein Unternehmen ist, desto komplexer sind auch die Prozesse. Bevor man also von einem effizienten Purchase-to-Pay-Prozess sprechen kann, ist es zunächst einmal wichtig, transparent zu machen, wie die einzelnen (Unternehmens-)Bereiche zusammenhängen. An welcher Stelle es Verbesserungsbedarf gibt; wo die Zahnräder noch nicht ineinandergreifen.

Wenn wir uns die Prozesskette einmal genauer anschauen, wird deutlich, wieviel unterschiedliche Unternehmensfunktionen beteiligt sind: Von der Buchhaltung über die Disposition bis zur Logistik und weiteren Abteilungen wie Controlling, Produktentwicklung, Vertrieb und Marketing.

Das alles in Einklang zu bringen, ist keine leichte Aufgabe. Zumal mein Verantwortungsbereich ja auf ein Teilstück des Gesamtprozesses beschränkt ist. Um noch einmal auf das Bild des U-Bahnnetzes zurückzukommen: neben dem Einkaufsstrang – bspw. der Linie 1 – laufen parallel weitere Linien in unterschiedliche Richtungen, die sich zwar immer wieder kreuzen, aber nicht durchgängig verbunden sind. Insofern ist es wichtig, kooperativ mit den anderen Abteilungen zusammenzuarbeiten.

„Bevor wir von einem effizienten Purchase-to-Pay-Prozess sprechen, sollten wir zunächst transparent machen, wie die einzelnen (Unternehmens-)Bereiche zusammenhängen.“

Hilfreiche Tools gibt es viele. Ich persönlich bin ein Befürworter des Best-of-Breed-Ansatzes. Dabei ist es wichtig, die einzelnen Systeme ins Gesamtkonzept zu integrieren – und gleichzeitig in einem Proof-of-Concept zu überprüfen, ob uns das Tool tatsächlich bei der Problemlösung hilft. Also einerseits der Blick aufs große Ganze und andererseits die Fokussierung auf einen ganz bestimmten Teilbereich.

Konkret machen wir das so, dass wir mit einer Business Case Analyse starten und im Anschluss daran in die Testphase übergehen. Dabei holen wir uns immer auch die vor- bzw. nachgelagerten Abteilungen mit ins Boot. Regelmäßige Feedback-Schleifen helfen uns, Stolperfallen frühzeitig aufzudecken und den Mehrwert der Lösung bewerten zu können.

Wenn das Tool überzeugt, führen wir es ein – zunächst lokal, danach folgt der globale Roll-out. Wenn nicht, dann beenden wir den Proof-of-Concept. Alles andere wäre Zeit- und Geldverschwendung. Klar haben wir es auch mit Gegenwind zu tun. Insofern ist die frühzeitige Einbindung der internen Stakeholder ein absolutes Muss. Mitunter dafür haben wir die Abteilung „Analyse und Prozesse“ als zentralen Ankerpunkt und Schnittstelle im Unternehmen etabliert.

apadua: Mit welchen drei Begriffen würden Sie den Professional Services Einkauf der Zukunft beschreiben?

Bernd Kohring: Professionell. Vernetzt. Transparent. Der Einkauf als stabiler Partner, als Fels in der Brandung, der seine internen Kunden entlang des gesamten Prozesses – von der Projektspezifikation bis hin zur Projektvergabe – begleitet. Intern und extern gut vernetzt ist und dafür Sorge trägt, dass Datentransparenz hergestellt wird. Und letztlich auch den Prozess der Standardisierung und Automatisierung begleitet.

„Auch in Zeiten von Digitalisierung & Virtualisierung verstehe ich den Einkauf weiterhin als Fels in der Brandung, der seine internen Kunden entlang des gesamten Prozesses begleitet.“

apadua: Das letzte Wort gehört Ihnen: was Sie uns schon immer einmal sagen wollten, …

Bernd Kohring: Es ist mir ein persönliches Anliegen, die Einkaufsabteilungen aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken. Was meine ich damit? Dem Einkauf fehlt es vielerorts an Selbstbewusstsein, dabei hat der Einkauf eine extrem große Hebelwirkung – und analog zum Vertrieb – einen großen Einfluss auf das Unternehmensergebnis.

„Liebe Einkaufsabteilungen, wacht endlich aus eurem Dornröschenschlaf auf und betreibt mehr internes Marketing.“

Daher lautet mein Appell an die Einkäufer:innen, sich ihrer Rolle und ihrer Funktion im Gesamtgefüge bewusst zu werden und mehr internes Marketing zu betreiben. Dafür braucht es starke Persönlichkeiten und letztlich auch ein starkes Netzwerk im Unternehmen. Das kommt sicherlich nicht von alleine und schon gar nicht von jetzt auf gleich. Insofern heißt es dranbleiben und sich immer wieder ins Gedächtnis der internen Kunden rufen. Das kann der Einkauf vom Vertrieb lernen.

Zur Person

Bernd Kohring stieg 1996 bei SEW-EURODRIVE im Strategischen Einkauf ein. Seit 2010 leitet er den gesamten Einkauf für sämtliche deutsche Produktionsstandorte. Zusätzlich gehört zu seinem Aufgabengebiet die Koordination weltweiten gemeinsamer SEW Einkaufsaktivitäten. In Zahlen: Jährliches Einkaufsbudget von rund 750 Mio. Euro, über 38.000 verschiedene Materialien, ca. 260.000 Bestellungen pro Jahr und einer Lieferantenbasis von ca. 3.900 Zulieferfirmen.


Der studierte Wirtschaftsingenieur sieht den Einkauf als Treiber des digitalen Wandels und möchte ihn als zukünftigen Wertgestalter im ganzen Unternehmen viel stärker positionieren. Seine erfolgreich gestartete Initiative „Procurement 360° – Digitale Vision 2025“ zeigt nicht nur die Komplexität und die umfangreichen Kompetenzfelder einer Einkaufsfunktion im crossfunktionalen und internationalen Kontext auf. Auch die eingesetzte Methodik, das Zusammenspiel innerhalb des Unternehmens sowie die enge Verzahnung mit allen Schnittstellen sind die Inhalte des gesamtheitlichen Ansatzes für eine vernetzte, professionelle und zukunftsorientierte Einkaufsabteilung. Die enormen Stellhebel und Kompetenzen werden endlich sichtbar.


Flankierend hierzu hat Bernd Kohring eine „Procurement Academy“ ins Leben gerufen, um das Know-how im Unternehmensverbund von SEW-EURODRIVE zielgerichtet zu adaptieren.

Über SEW Eurodrive

SEW-EURODRIVE bewegt als einer der weltweiten Marktführer in der Antriebstechnik unzählige Prozesse, Anlagen oder Maschinen in vielen Branchen der Produktions- und Prozessindustrie. Seit 90 Jahren steigert SEW-EURODRIVE die Produktivität seiner Kunden. Von schnell, dynamisch und hochpräzise, wie in der Stückgutfertigung, groß und kräftig, wie in der Grundstoffindustrie oder in Container-Terminals bis zu kontinuierlichen und logistischen Prozessen, sind Lösungen von SEW-EURODRIVE überall auf der Welt zu Hause. Mehr unter: https://www.sew-eurodrive.de/startseite.html

Zahlen & Fakten

  • 1931 gegründetes, inhabergeführtes Familienunternehmen mit Hauptsitz in Bruchsal
  • einer der internationalen Marktführer im Bereich Antriebstechnik/ Antriebsautomatisierung
  • > 4,2 Mrd. Euro Umsatz im Kalenderjahr 2022
  • rund 21.000 Beschäftigte weltweit, davon fast 800 in Forschung und Entwicklung
  • 17 Fertigungswerke und 88 Drive Technology Center in 54 Ländern

Weitere Informationen: www.sew-eurodrive.de